Warum ein Zürcher Fernsehkoch die Volksinitiative „gegen Masseneinwanderung“ bekämpft
Drei Cappuccino kippt Erik Haemmerli hinunter, dann tritt er in die Kälte auf dem Helvetiaplatz im Zentrum von Zürich. Er trägt einen Dreiteiler, Seidenschal, eine goldene Taschenuhr, er hat sich herausgeputzt für den Protest. „Ich bin eine lokale Größe, und es sind Zeiten, wo man Farbe bekennen muss“, sagt Haemmerli, 47, Restaurantbesitzer und Fernsehkoch bei TeleZüri.
Vorn auf der Bühne ruft ein Sprecher ins Mikrofon: „Haben wir ein Problem mit Zuwanderern?“ „Nein“, ruft Erik Haemmerli, rufen 300 Künstler, Musiker, Politiker und eine „Tatort“-Kommissarin. In den Händen halten sie Briefkuverts, darin die Stimmzettel für die Volksinitiative „gegen Masseneinwanderung“.
Wer mit Ja stimmt, der unterstützt, dass künftig nur noch eine jährlich festgelegte Anzahl von EU-Bürgern in der Schweiz arbeiten darf. Die Demonstranten haben Nein angekreuzt, jetzt werfen sie ihre Stimmzettel in den Briefkasten.
Zu den Referendumsgegnern gehören nicht nur Leute wie Erik Haemmerli, sondern auch der Unternehmerverband, Gewerkschaften und Politiker nahezu aller Parteien. Zusammen wollen sie ihre Mitbürger überzeugen, am 9. Februar gegen das Volksbegehren zu stimmen. Bisher sieht es zwar so aus, als würde eine Mehrheit es ablehnen. Doch die Umfrageinstitute lagen schon einmal falsch, beim Minarett-Referendum.
Denn die Schweizer haben bereits 2008 über eine Initiative gegen „Masseneinbürgerung“ abgestimmt (abgelehnt) und 2009 gegen den Neubau von Minaretten (erfolgreich). Jetzt geht es gegen Europa, gegen Deutsche, Portugiesen, Italiener, die in der Schweiz arbeiten wollen. „Maßlosigkeit schadet. Masseneinwanderung stoppen“, das ist der Slogan, mit dem die Schweizerische Volkspartei (SVP) wirbt. Wie 2008 steht auch diesmal der Unternehmer und SVP-Übervater Christoph Blocher hinter der Kampagne.
Gut jeder fünfte Einwohner der Schweiz hat einen ausländischen Pass, das ist eine der höchsten Migrantenquoten Europas. Um 80 000 Ausländer wachse die Bevölkerung jährlich, das entspreche einer neuen Stadt von der Größe Luzerns, wirbt die SVP für ihre Initiative. Die Einwanderer seien schuld an überfüllten Straßen und Zügen, an der Wohnungsknappheit und der zugebauten Landschaft.
Das weckt Ängste, nicht nur vor den Ausländern, sondern auch davor, dass die Schweiz sich verändert, dass sie mit all den Menschen ein anderes Land werden könnte. Dichter besiedelt, hektischer, weniger kuschlig.
Politik ist für den Fernsehkoch Haemmerli sonst eine Rubrik in der Zeitung; er wählt nicht bei jeder Volksbefragung. Doch diesmal ist es anders. Dass er jetzt gegen das Referendum protestiert, liegt daran, dass er sich die Schweiz als ein offenes, gastfreundliches Land wünscht. Eine Schweiz, die etwa so aussieht wie der Zürcher Stadtkreis 4, in dem der Helvetiaplatz liegt; bekannt für seine vielen Migranten, für die Mischung aus Exotik, Rotlicht und Unordnung, die bis vor einigen Jahren die Gegend zum Problemviertel machte und jetzt Menschen wie Erik Haemmerli anzieht. Aber er tut es auch, weil er sein Restaurant sonst vielleicht eines Tages schließen müsste.
Denn würde die Volksbefragung erfolgreich verlaufen, müsste die Schweiz die Personenfreizügigkeit einschränken. Nicht mehr jeder EU-Bürger dürfte sich einfach in der Schweiz niederlassen. Vermutlich müssten auch andere bilaterale Abkommen zu Handel, Kapitalverkehr und Kooperation mit Brüssel neu verhandelt werden, denn das betroffene Vertragswerk gilt nur ganz – oder gar nicht. Ob und wie das geht, das weiß noch niemand so genau.
Wer in Haemmerlis Restaurant Bederhof Rinderfilet oder Geschnetzeltes bestellt, bekommt daher neuerdings ein Faltblatt gereicht. „Fertig lustig“ steht da, und dass guter Service ohne Einwanderer unmöglich sei. Wenn der Chef sein Personal vorstellt, geht es einmal um die Welt. Hinten, in der Küche: Marcin aus Polen. Vorn, bei den Gästen: Lilly aus Vietnam. „Do you speak English?“, ruft Haemmerli seinem neuesten Mitarbeiter zu. „Un petit“, antwortet dieser. Er kommt übrigens aus Syrien.
Der Bederhof ist beides, gelebte Vielfalt und wirtschaftliche Notwendigkeit. „Ich finde keine jungen Schweizer mehr, die das machen wollen“, sagt Haemmerli. Die Schweizer wollen mehr Lohn, mehr Anerkennung, als er ihnen geben kann. Das gilt nicht nur in der Gastronomie; es kommen auch viele Hochqualifizierte, besonders Deutsche: Professoren, Ärzte, Angestellte. Knapp 60 000 Deutsche pendeln zur Arbeit ins Nachbarland; 290 000 Deutsche leben dauerhaft in der Schweiz. Menschen wie Jelka Mayer, Hotelfachfrau, seit sieben Jahren in Zürich und ebenfalls im Bederhof.
„Wenn ein Gast diskutieren will, soll er sich an mich wenden“, sagt Haemmerli zu seinen Mitarbeitern, die die Faltblätter verteilen. Er will sich für seine Köche und Kellner einsetzen, schließlich sind sie es ja, die zum Wohlstand der Schweiz beitragen, auch zu seinem. „Macht mich reich!“, ruft Haemmerli seinen Angestellten zu. Er lacht. Und meint es ein bisschen ernst.
Erschienen in DER SPIEGEL 5/2014