Sie wohnen in selbstgezimmerten Hütten, ohne Strom, ohne Wasser, ohne Regeln. 150 Verlorengegangene, Treibende und Idealisten haben eine Brachfläche mitten in Berlin bebaut und stellen durch ihre Anwesenheit Fragen: Wer darf in der Stadt leben? Und was heißt das: gutes Leben?
Auf der Brache leben drei Arten von Ratten. Die kleinen, putzigen. Die mittelgroßen mit ihrem glänzenden Fell. Und die großen, die manche hier Hasengesichter nennen. Ratten gibt es überall in der Hauptstadt. Nur sind sie nirgends so ungeniert zu Hause wie auf diesem Gelände. Nachts hocken sie quiekend am Rand des Weges, der zur Spree führt. Von Menschen nehmen sie keine Notiz. Das gilt auch umgekehrt.
Auf der Brache leben drei Arten von Menschen. Die Gestrandeten, Heimat- und Obdachlosen, manche zu jung, um legal Zigaretten zu kaufen. Die Roma, von der Polizei hierher geschickt, damit ihre Lager aus den städtischen Parks verschwinden. Und die Kreativen, die Idealisten und Aktivisten. Sie suchen hier nicht Zuflucht sondern Freiheit, Freiraum und Unabhängigkeit. In einer Baulücke, die sich als letzte unbebaute Fläche zwischen Häusern, Spree und einer Ausgehmeile für Touristen auftut: die Cuvry-Brache.
Sie wohnen in Hütten aus zusammengeklaubtem Holz, in billigen Iglu-Zelten. Ohne Strom, ohne fließend Wasser, mit wenigen Besitztümern, mitten in Berlin-Kreuzberg. Keine zehn Kilometer ist das Regierungsviertel entfernt, in dem die Regeln für ein ordentliches, deutsches Leben aufgestellt werden. Eine Distanz, die von hier aus unüberwindbar scheint.
Der Platz ist in diesem Sommer dicht besiedelt. Staubige Wege gliedern das Gebiet, sie dienen der Cuvry-Brache wie Achsen einem Koordinatensystem. Darin sortieren sich, der Welt draußen nicht unähnlich, die Bewohnergruppen sauber voneinander getrennt ein: Die Gestrauchelten haben ihre Zelte und Hütten am Ufer der Spree aufgestellt. Ein weißes Tipi verbreitet Ferienlageratmosphäre. Die beiden Roma-Familien aus Bulgarien und Rumänien leben entlang der X-Achse aufgereiht, Tag für Tag fegt dort eine junge Frau ebenso emsig wie erfolglos, Kleinkinder spielen, Männer warten auf die Arbeitsplätze, für die sie nach Berlin gekommen sind, die es für sie aber nicht gibt. Die Kreativen, die Künstler, Studenten, Besetzer, Musiker und Träumer haben sich in ihren Lauben im Gebiet links des Brache-Eingangs an der Schlesischen Straße eingerichtet. Manche haben zweigeschossig gebaut, andere, wie Martina, sich in kleinere Hütten zwischen dichtes Gebüsch gedrängt.
Keiner von ihnen hat gefragt, ob er bleiben darf – die meisten leben mit der Erfahrung, nicht sehr viel zu dürfen. Hier nehmen sie sich Platz, ein paar Quadratmeter für jeden, und stellen damit der Mehrheit ganz nebenbei existentielle Fragen: Wer darf in der Stadt leben? Und was heißt das: gutes Leben?
Für Martina heißt es „Freiheit“. Die ist zwei Mal drei Meter groß und besteht aus Spanplatten, die sie wie einen Flickenteppich aus alten Schranktüren und Fenstern zusammengeschraubt hat. Sie hatte keinen Bauplan, trotzdem steht das Haus seit einem Jahr. Innen sieht es aus wie in vielen WG-Zimmern: Klamotten liegen auf dem Boden verteilt, leere Pfandflaschen stehen in einer Ecke, das Bett ist ungemacht. Ordentliches Chaos, nur auf weniger Quadratmetern – und mit einem Gasofen für die kalten Tage. „Wer wenig hat, kümmert sich sorgsam darum“, sagt sie und spült das eine von den zwei Gläsern, die sie besitzt, mit Wasser aus einem Kanister ab. „Wer viel hat, wird ängstlich.“
In einer lauen Sommernacht sitzt Martina auf dem Dach und guckt auf die Welt hinter dem mannshohen Holzzaun, der die Brache umgibt. Sie ist 23 Jahre alt, hat lange schwarze Haare und braungebrannte Haut, auf der Farbkleckse so hartnäckig kleben, wie die Botschaften, die sie auf Holzplatten pinselt, um sie vor dem Eingang der Brache aufzustellen: „Free Cuvry“ oder „Our home against your system“. Das „system“ ist für sie die Welt jenseits des Zauns: die Welt der Vermieter, Putzpläne, ungeliebten Jobs, die man machen muss, um Geld zu verdienen – die Welt all dieser Grundsätzlichkeiten, die ein junger Mensch jahrelang trainiert, weil sie halt dazugehören. Das alles hat Martina gehabt und hinter sich gelassen.
Wenn sie morgens aufsteht, hockt Martina sich auf die Stufe vor ihrer Hütte und betrachtet eine Weile lang den Tag. Kaffee, Zigarette, Gucken. Meistens hat ihr Freund, der Spanier Arend, dann schon Essen besorgt, aus den Mülltonnen der umliegenden Supermärkte klaubt er Melonen, Stiegen voll Avocados, an guten Tagen Schokoküsse. Lebensmittel, nicht mehr gut genug für den Verkauf, zu gut, um sie zu vernichten. Manche Händler im Kiez lassen inzwischen aussortierte Ware für die Cuvry-Bewohner vor ihren Geschäften stehen. So reicht das wenige Geld, das Martina mit ein paar Kneipenschichten im Monat verdient, für sich, ihren Freund und den struppigen Hund Kelba.
Kürzlich war ihre Mutter aus Bosnien-Herzegowina zu einem Besuch angereist. Sie war entsetzt: Hatte sie nicht vor über zehn Jahren ihre Heimat verlassen, um ihren Kindern mehr bieten zu können als ein Leben im selbstgebauten Provisorium? In genau so eine Hütte hatte sie der Krieg gedrängt. Deshalb war die Familie nach Deutschland geflüchtet, hatte die lähmende Asylprozedur über sich ergehen lassen, alles, um wieder in einem richtigen Haus wohnen zu können. Erst als die Kinder erwachsen waren, sind sie und ihr Mann zurückgekehrt. Im Weltbild der Mutter leben heute nur noch die Armen, Roma oder Gestrauchelte in solchen Hütten. Das Zuhause ihrer Tochter erschien ihr deshalb als Sinnbild dafür, alles verloren zu haben.
Martina glaubt, nicht länger im eigenen Leben gefangen zu sein, so wie damals, als sie sich zur Rettungsassistentin hatte ausbilden lassen, um anderen helfen zu können. Danach stand sie zwei Jahre lang am Rand eines Schwimmbadbeckens und fühlte sich dort so gebraucht wie ein Ganzkörperbadeanzug von einem FKK-Schwimmer. Zur gleichen Zeit starb einer ihrer Freunde, ein Flüchtling, sein Herz gab unter dem Druck seiner drohenden Abschiebung auf. Martina hatte seine Angst nicht bemerkt. Zu abgelenkt war sie, das will sie nicht mehr sein. Deshalb versucht sie zu helfen, Lücken aufzureißen, in denen Leben auch anders möglich ist.
Die Cuvry-Brache ist so eine Lücke. Die Baufläche, knapp so groß wie der Platz, auf dem der Reichstag steht, ist eine der begehrtesten in der Stadt. Einst stand hier ein Bunker, später streckten sich Lagerhallen, gelegentlich kamen Wanderzirkusse für ein paar Vorstellungen. Auch ein Freiluft-Club eröffnete und blieb – bis er 1998 eines der ersten Berliner Opfer der Gentrifizierung wurde, die seit Jahrzehnten in allen Metropolen der Welt ärmere Bewohner zugunsten von wohlhabenden verdrängt. Ein Investor träumte von einem Einkaufszentrum am Spreeufer, dann von einem Fünf-Sterne-Hotel, schließlich ging er in die Insolvenz. Der nächste Besitzer wollte den Platz BMW und der Guggenheim-Stiftung zur Verfügung stellen, die ein Lab, eine Art Denkwerkstatt planten, in der es um den hippen Kreativstandort Berlin und seine Vermarktung gehen sollte. Aus Protest gegen diese Pläne errichteten Aktivisten ein Zelt, zogen darin ein, die Denkwerkstatt eröffnete schließlich im Prenzlauer Berg. Als Anfang 2013 erneut der Besitzer wechselte und der Immobilieninvestor und Hotelbesitzer Artur Süsskind das Gelände kaufte, standen bereits die ersten Hütten. Jetzt, im dritten Jahr der Besetzung, leben hier rund 150 Menschen aus allen Ecken der Welt.
Mario aus Polen. An guten Tagen arbeitet er auf Baustellen, an schlechten sammelt er Flaschen, an normalen trinkt er Wodka, spült mit Orangenbrause nach und lässt die Flaschen in seiner Gruppe kreisen. Sie alle kommen aus Osteuropa und suchen Arbeit. Die Gruppe hat viele Tricks zum Schnorren. So wie der, bei dem sie einen Becher mit Kleingeld mitten auf den Gehweg stellen. Wer ihn übersieht und umstößt entschuldigt sich überschwänglich, sammelt die Münzen wieder auf und legt meist noch ein paar dazu.
Candy. 44 Jahre alt. Berliner, blonder Riese, trägt meist nur Badehose und eine schwarze Bauchtasche. Er betont gerne, dass er hier mit der Architektin verkehrt, die ihr Studium mit Bestnote abgeschlossen hat, mit dem Japaner, der Karate auf höchstem Niveau beherrscht, mit den Medizinstudenten. „Ich spreche mit Klaus Wowereit und Angela Merkel über die Brache“, sagt er. Wie das? „Ich hab ihnen Briefe geschrieben.“ Journalisten lieben ihn für solche Sätze, manche geben ihm Geld und direkt eine eigene Serie in der Boulevardzeitung.
Artur. Albaner. Ein drahtiger Gitarrenspieler mit verworrener Vergangenheit. Manchmal setzt er an, über seine Kinder zu reden, die er nicht treffen kann, über die Suche nach Arbeit, die im Gefängnis endete. Wenn einer nachfragt „Warum denn Gefängnis?“, bricht Artur ab: „Warum willst du das wissen?“ In Deutschland hat er keine Arbeitserlaubnis, in seiner Heimat keine Zukunft.
Die Freiheit hier ist nur vorübergehend, geborgt vom Immobilieninvestor. Anstelle der Träumenden und Idealisten in ihren winzigen Hütten möchte er bald solvente Bewohner in weitläufigen Lofts sehen. Neue Boutiquen sollen eröffnen, ein Kindergarten. Hunderte Millionen Euro hat er dafür veranschlagt. Dort, wo heute tagsüber Punks in die Spree springen und nachts Lagerfeuer brennen, soll dann eine geradlinige Flaniermeile am Ufer entlangführen.
Es sind die heißen Tage im Juli, an denen die Gerüchte kursieren. Ein Polizist habe es ihm gesteckt, sagt einer. Ein anderer ist sich sicher, dass es nur „ein Vorwand“ sei, wenn Autos wegen eines angeblichen Filmdrehs nicht vor der Cuvry parken dürften. Bald gelten die Gerüchte als Tatsache: Die Polizei wird kommen und soll die Bewohner vertreiben. „Die können uns doch nicht einfach auf die Straße setzen“, sagt eine Frau. Sie meint das ernst.
Ein Plenum. Drei Dutzend Bewohner, Nachbarn und Sympathisanten stellen am frühen Abend Sofas und Bierbänke am Spreeufer im Kreis auf. Einige setzen sich auf den plattgetretenen Sandboden, den sie Strand nennen. Hände drehen Zigaretten, Neuankömmlinge begrüßen sich mit Umarmungen, eine Handvoll Journalisten beäugt die Runde. Alle warten. Plötzlich springt ein Mann von seinem Sofa auf, macht seinen kleinen, runden Körper mit wedelnden Armen groß. Trüge er kein T-Shirt, könnte man die vier tätowierten Frauenköpfe auf seiner Brust auf und ab hüpfen sehen. Er ist der Anführer der beiden Roma-Gruppen und baut sich jetzt vor einer Journalistin auf, die die Runde fotografiert hatte: „Ich will Geld für das Foto.“ Journalisten sollen verschwinden. Die Polizei gar nicht erst kommen. Dann geht er langsam davon, wissend, dass keine Aktionen möglich sind, wenn die Roma nicht mit machen. Seine Familie folgt ihm schweigend.
Es sollen viele da sein, wenn die Polizei anrückt, aber schon zum Plenum sind nur wenige gekommen. Die stellen einander nun Fragen, auf Deutsch, Englisch, Spanisch. Wütend, aktionistisch, enthusiastisch: Bekommen wir Zeit, unsere Sachen zu packen? Wie viele Polizisten kommen? Die Kinder, die Tiere, was wird aus ihnen? Was machen sie mit uns?
„Ich lenk die Polizisten einfach ab“, ruft einer in die Runde.
Alle gucken ihn fragend an. Kann er sie vor der Räumung retten?
„Ich spring einfach in die Spree!“
Nein, kann er nicht.
Das Plenum tagt nun schon zwei Stunden. Es ist, als rede die Runde, um davon abzulenken, dass sie nichts haben, was sie retten kann. Die Gruppe schrumpft, es beginnt zu nieseln. Lange halten sie sich mit der Frage auf, ob sie einen der drei Eingänge verbarrikadieren; lieber alle; nein, besser nur zwei. Keiner spricht aus, dass die Polizei den Holzzaun an beliebiger Stelle niederreißen könnte. Als sie sich geeinigt haben – nur einer soll verschlossen werden – beglückwünscht Martina ihre Nachbarin für „das voll schöne Plenum“. Am Ende verschließt niemand irgendeinen Eingang und so endet die erste gemeinsame Versammlung seit langem mit: nichts.
Der Alltag auf der Brache ist wie ein vorlautes Kind, das anderen ein Bein stellt: Die Bewohner stolpern darüber, dass es keine Beschlüsse für alle gibt. Hier macht jeder, was er für richtig hält. Deswegen kann dort, wo sich am Sonntag der eine hinter einem aufgespannten Duschvorhang Wasser über den Kopf gießt, am Montag ein anderer sein Haus zimmern. Niemanden stört das. Oder besser gesagt: Die, die es störte, haben sich längst verzogen.
Berlin ist ein in Gebäude verpacktes Überangebot an weltbesten Technoclubs, an historisch bedeutsamsten Schauplätzen, an schrammeligen Bars in denen sich Superstars wie David Bowie und Quentin Tarantino legendäre Nächte wegsoffen. Nichts ist kurios genug, um wirklich zu beeindrucken. Fast nichts. Vor der Cuvry-Brache steht Jamin und schwört Touristen darauf ein, dass sie jetzt etwas sehen können, das selbst in dieser Stadt einzigartig ist. Die Besucher in ihren Hüftröckchen, Hotpants und Sandaletten aus Israel, Schweden und den USA nehmen einen Schluck aus ihren Bierflaschen und gucken ihn erwartungsvoll an. Also: Keine Fotos von Menschen, sagt Jamin. Auch nicht von den Hütten. Pfandflaschen am Ende stehen lassen, als Spende. Acht Cent für eine gute Urlaubsanekdote.
Jamin, Anfang dreißig, ist Australier und sieht aus wie ein Bilderbuchsurfer, braungebrannt, blonde Dreadlocks. Trotzdem hat er statt einer Meeresküste den staubigen Platz am Ufer der braunen Spree gewählt. Es ist der zweite Sommer, in dem er auf diesem Platz lebt. Er verdient sein Geld damit, Touristen durch Kreuzberg zu führen. Die Brachfläche ist sein Höhepunkt.
„Ich will, dass Leute das hier nicht verpassen“, sagt Jamin. Mit „das hier“ meint er die Möglichkeit, sich von diesem Platz anstecken zu lassen, sich einfach mal zu trauen, anders zu sein, als jeder es selbst von sich erwartet. So wie er, der in seinem früheren Leben Kühlschränke baute und glaubte, diesen Job niemals hinschmeißen zu können. „Really?“, fragt er heute, „ihr könnt wirklich kein anderes Leben leben?“ Jamins Begeisterung springt auf seine Gruppe über, zum schüchternen Glotzen kommt staunende Bewunderung. Dann ziehen sie zur nächsten Sehenswürdigkeit weiter. Berlin. So awesome.
Was er den Touristen nicht erzählt, ist seine Enttäuschung. Darüber, dass jeder alles darf und einige alles tun. Der Platz hat sich verändert, sagt er. Einen Gemeinschaftsgarten wollte er mit anderen anlegen, für die Nachbarschaft kochen, Hühner hätten sie sich gewünscht. Statt Tomaten und Zucchini ist auf den fruchtbarsten Metern die Siedlung der Roma gewachsen. Die, mit denen Jamin träumte, sind wieder in Wohnungen gezogen. „Eigentlich“, sagt er „ist doch längst alles entschieden.“
Von seiner Terrasse aus könnte er auf ein sumpfiges Schilfmeer blicken, dahinter den Platz sehen, der gerade wieder wie vergoldet in der Abendsonne liegt. Er hat jetzt aber keinen Blick dafür. Jemand hat ihm Pfandflaschen geklaut, ein neues Paar Schuhe mitgenommen. Der Couchsurfer, den Jamin beherbergt, hatte vergessen, die Tür zu verschließen. Freiheit kommt hier nicht ohne Vorhängeschloss aus.
Warum leben die Menschen trotzdem hier? Da ist der Stolz darüber, selbst eine Hütte gebaut zu haben. Da ist die Bewunderung anderer dafür, ohne Tiefkühlpizza, ohne ständige Internetverbindung, ohne die warme Dusche am Morgen auszukommen. Da ist die Ungezwungenheit und immer wieder das Gefühl von Freiheit. Aber da sind auch der Müll, die Ratten, Alkoholprobleme. Und der mangelnde Wille, eine Gemeinschaft entstehen zu lassen, mehr zu teilen als einen Schluck Sojamilch und den Platz am Lagerfeuer. „Wenn sich hier jemand einen goldenen Schuss setzen will, würde ich sagen: Mach doch“, sagt Candy, der Mann in Badehose. Das mit der Freiheit auf der Brache ist wie mit der großen Liebe: ein guter Teil davon erstickt über die Jahre im täglichen Kleinkrieg, im gesunden Egoismus des Einzelnen, am Alltag. Und sie alle sind nur auf Abruf hier. Wozu also Verantwortung übernehmen?
Auch Berliner Politiker und die Verwaltung wollen sich nicht für die Cuvry-Brache verantwortlich fühlen. Der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg teilt mit, dass das Jugendamt die Kinder und Jugendlichen auf dem Platz im Auge habe. Für das Gelände selbst sei der Senat zuständig: Der hatte vor Jahren die Entscheidungsgewalt über den Platz an sich gerissen, als sich der Bezirk gegen Bauvisionen stellte und keine Genehmigungen erteilen wollte. Doch für die Bitten der Cuvry-Bewohner, so wie die um Müllcontainer, wollen die Senatoren nicht zuständig sein. Für alles, was nicht das Baurecht betrifft, verweisen sie an den Investor. Der wiederum spricht nur von Räumung. Sein Antrag ist gestellt, über den Bebauungsplan will das Abgeordnetenhaus im kommenden Frühjahr abstimmen. Mit denen, die auf der Brache leben, wollen weder die Politiker, noch der Investor verhandeln. Zu eindeutig ist die Rechtslage: Der Platz ist Eigentum.
Im vergangenen Winter, erzählt Martina, habe noch mehr Gemeinschaft bestanden. Die eiskalten Tage haben sie gemeinsam am Ofen verbracht, geredet, musiziert, einander warm gehalten. Eine der Hütten hatten sie zur Gemeinschaftsküche erklärt. Aber dann kam es immer wieder zu Streit, einige wurden handgreiflich, mitten in der Küche. Und weil die Zänkereien nicht aufhörten, lösten Martina und die anderen den Gemeinschaftsort auf und zogen sich in ihre eigenen Hütten zurück. Typisch Cuvry? Typisch für alle Menschen, die Raum mit anderen teilen: Mehrfamilienhäuser, Wohngemeinschaften, Kneipen, Schrebergärten.
Martina sitzt jetzt häufig in einem Internetcafé, gemeinsam mit anderen schreibt sie einen Blog, bittet auf Twitter um Unterstützung. Sie malen noch mehr Schilder, um sie vor dem Eingang der Brache zu platzieren. Martina klappert die Treffen von politischen Gruppen in Kreuzberg ab, bittet sie um Mithilfe. Als dreißig Leute, auf ihre Einladung hin, vor dem Platz demonstrieren, ist das für sie ein Erfolg. Sie will Allianzen schmieden, die Bewohner benachbarter Mietshäuser überzeugen, dass die Cuvry auch ihr Platz ist. Die wissen häufig nur das, was Zeitungen berichten: „Favela von Berlin“, „Slum“. Von Müllbergen ist die Rede, von Drogen, von Menschen, die sich ihren Kaffee mit Spreewasser kochen. Vieles davon ist wahr und doch nur die halbe Wahrheit.
Solche Medienberichte verärgern Martina: „Wir sind doch nur ein Spiegel der Gesellschaft.“ Er lässt den Blick auf hässliche Schicksale zu, die sich sonst unter Brücken verstecken, in Wohnungen, die das Amt bezahlt, oder in ihrer osteuropäischen Armut. Dann erzählt sie die Geschichte eines Mannes, der viele Jahre auf Straßen und unter Brücken schlief, bis er von der Brachfläche erfuhr. Er begann, eine Hütte zu bauen, Gemüse zu säen. Und er veränderte sich, es war, als blühte er mit seinen Blumen auf. Inzwischen lebt er in einer Wohnung. „Ich glaube, er hat sogar Arbeit“, sagt Martina. Und: „Das hat die Cuvry mit ihm gemacht.“ Ein Märchen? Vielleicht, vielleicht auch nicht.
Nur können sie es niemandem recht machen. Für die einen sind Martina und die anderen Cuvry-Bewohner zu anders. Für die anderen sind sie falsch anders. „Cuvry verbarrikadieren!“ und „nicht richtig gegendert!“ hat ein erfahrener Aktivist aus der Kreuzberger Szene auf ein gelbes Flugblatt gekrakelt, das Martina geschrieben hatte. Ob ihr das Schreiben gelungen sei, hatte sie den Aktivisten gefragt. Nein, hatte er geantwortet. Die Bewohner sollten gemeinsame Forderungen stellen, politischer klingen. Und als allererstes, sagte er, müssten sie die Idioten rausschmeißen.
„Mich stört, dass manche aus dem Platz eine Festung machen wollen“, sagt Martina. In ihrer Welt gäbe es keine Idioten mehr, nur Menschen, die sie manchmal nicht verstehe. Wenn Martina über ihr Leben auf dem Platz spricht, überlegt sie lange, bevor sie etwas sagt. Manchmal scheint es selbst für sie eine unlösbare Aufgabe zu sein, aus den Widersprüchen des Platzes eine plausible philosophische Formel zu klauben.
Als Kind mussten Martina und ihre Familie jahrelang isoliert vom deutschen Alltag in einem Asylbewerberheim am Rande Frankfurts auf eine Aufenthaltserlaubnis warten. Jetzt wartet Martina wieder. Darauf, dass ihr jemand ein Leben auf der Cuvry gestattet – oder es ihr heute, morgen oder übermorgen wegnimmt. Anderen soll es besser ergehen. Deshalb marschierte sie im Frühling mit protestierenden Flüchtlingen nach Brüssel. Sie kümmert sich um kranke Asylbewerber, die sich einem deutschen Arzt nicht verständlich machen können. Für ihre Roma-Nachbarn ruft sie bei Firmen an, die Mitarbeiter suchen. Und versucht unermüdlich zu erklären, warum ihre Stadt einen Ort wie die Cuvry braucht.
Eine Regisseurin hat ein Stück geschrieben, Schauspieler gecastet und die Hütten der Cuvry-Brache zur Kulisse gemacht. Darin ringen nun Männer und Frauen um ihre Liebe, eine junge Frau sitzt auf einem Eimerklo, eine andere badet nackt in Schaum und der Liebe eines verzweifelten Mannes. Die Zuschauer tuscheln miteinander, tauschen aus, was sie über die Brache gehört haben. Als ein junger Mann im Rock barfuß an ihnen vorbei läuft, nickt sich das Paar in Allwetterjacken wissend zu. Artur, der Albaner steht mit seiner Gitarre etwas abseits und starrt die Zuschauer an. „Die wollen eine gute Geschichte? Ich bin eine gute Geschichte. Aber die will ja keiner hören.“
„Die Cuvrys müssen jetzt essen“, ruft die Regisseurin und läuft nervös über den Platz. Sie hat eine große Tafel auf dem Hauptweg aufgebaut, mit Weingläsern, Kerzenleuchtern, und Serviettengebilden eingedeckt, Gulasch in riesigen Töpfen gekocht. Es ist Teil der Inszenierung und weil es kostenloses Essen gibt, setzen sich die Bewohner hin und schaufeln ihre Teller voll. Martina stochert auf ihrem Teller rum. „Naja, geht so“, sagt sie. Sie meint das Essen. Und die ganze Inszenierung.
Martina hatte andere überredet, die Regisseurin in ihre Hütten zu lassen, ihr Projekt zu unterstützen, weil Besucher kommen sollten, die sich sonst nicht auf die Brache trauen. „Aber hier ging es ja gar nicht um Besetzung. Gar nicht um uns.“ In dem Stück verhandeln Paare um ihre Liebe. Es stellt existentielle Fragen. Nur nicht für Menschen, die darum kämpfen, überhaupt sein zu dürfen.
Die ersten verlassen den Tisch, spazieren mit Teller und Besteck davon. Dann verschwinden die Weingläser, Kerzenleuchter, Flaschen. Das Essen der Versöhnung, hatte die Regisseurin vorher in die Mikrofone der Reporter gesagt, und dabei vergessen zu hinterfragen, wer mit wem versöhnt werden muss. Die Cuvry-Bewohner untereinander? Oder die Gesellschaft mit der Idee, dass andersartige Menschen nicht nur Touristenattraktionen sind, sondern einen Platz zum Leben brauchen? Als nichts anderes mehr übrig ist, verschwindet eine Bewohnerin mit dem riesigen Kochtopf in den Händen und einem breiten Grinsen. Zurück bleiben die nackten Tische, auf denen Fleischfetzen in ihrem Soßebad schwimmen.
Ende Juli ist die Polizei noch immer nicht gekommen, aber es ist, als hätte sie die gute Stimmung bereits vom Platz geräumt. Die Hitze, die Ungewissheit und der billige Wodka haben einige auf dem Platz verändert. Es gibt viel Streit um Nichts. Eine Bewohnerin gestaltet die Außenwände der Bibliothek, sie beeilt sich fertig zu werden, damit niemand ihr Bild vorher überschmiert: Sie malt eine idyllische Berglandschaft, ein Holzhaus. Saftiges Gras, üppige Bäume, eine Katze. „Welcome“ steht drüber. In der Hitze hängt der Geruch von Schweiß.
Martina ist in einen Streit geraten. Die jungen Männer, die den Tag vor dem Eingang zur Brache absitzen und schnorren, wollen sie provozieren. „Kurva“, sagte einer und lässt das R lange und verächtlich rollen. Hure. Er spuckt in Martinas Richtung. Die anderen grinsen. Bis Martina ausholt und die Wodka-Flasche umwirft, die vor ihnen auf dem Boden steht. Sie zerschellt, der Alkohol versickert. Die Scherben bleiben.
„Idiot“, sagt Martina über den Kerl, der sie bespuckt hat. „Der muss weg.“
Foto: Philipp Hannappel
Erschienen in GO 2014