Seit Tetris habe ich kein Computerspiel mehr gespielt. Jetzt bin ich ein Kriegsbär in einer Kriegswelt und mit Doubleagent verabredet, einem Spieler, der den Sinn dieses Ortes unterwandert – weil er nichts anderes macht, als Kräuter zu sammeln.
Ich bin ein Bär mit langen Haaren und großen Brüsten. Ich war schon zwei Mal tot. Irgendwo liegen meine beiden Skelette, ich bin einfach über sie hinweg gestiegen. Das Leben hier macht mich knallhart. Ich bin im Spiel World of Warcraft, der Welt der Kriegskunst. Normalerweise melden sich Spieler hier an, weil sie andere besiegen und Punkte sammeln wollen, indem sie besonders hart kämpfen. Ich bin hierher gekommen, weil ich einen suche, der sich nicht an diese Spielvorgabe hält. Doubleagent heißt er. Selbstgewählter Beiname: der Wahnsinnige. Doubleagent ist inzwischen einer der berühmtesten Spieler hier, weil er sich weigert, zu kämpfen. Stattdessen sammelt er blaublinkende Pixelkräuter. Erdwurzeln, Friedensblumen und Silberblatt. Fürs Kräutersammeln erhält ein Spieler nur wenige Punkte. Doubleagent hat damit dennoch die höchste Stufe des Spiels erreicht: Level 90 von 90.
World of Warcraft feiert gerade seinen zehnten Geburtstag, es ist eines der erfolgreichsten Online-Rollenspiele: Über 500 Millionen Spieler haben sich bisher weltweit in der Fantasiewelt Azeroth bekämpft. Es herrscht Krieg zwischen den Mitglieder der Allianz und der Horde. Wer als Gegner identifiziert wird, wird vernichtet, egal ob Mensch, Zwerg, Untoter oder Blutelf. Daneben lösen sie Aufgaben, erlernen Berufe, erkunden die Fantasiewelt, verbünden sich mit anderen, um noch gerissenere Krieger zu werden und in der Rangliste aufzusteigen. Ich selbst habe seit Tetris kein Computerspiel mehr ausdauernd gespielt. Ich gehe lieber wandern.
Gestatten: GoldenPantz – den Namen gab mir der Zufallsgenerator. Ich bin jetzt also eine Bärenfrau mit großen Kulleraugen, mein langer Zopf weht, wenn ich die breiten Wege entlang haste. Alle hier hasten, schließlich bereiten sie sich aufs Kämpfen vor, nicht auf ein Wiesen-Picknick. Ich bin in dieser animierten Fantasy-Welt, auf einer betulichen Insel mit vergoldeten Tempeln, Wäldern, Seen und Berglandschaften gelandet und werde von einer Musik begleitet, die nach einer Mischung aus Blockbuster-Soundtrack und Asia-Imbiss klingt. Wer sich bei der Anmeldung entscheidet, als Pandare, also als pandabärenähnliches Wesen, zu spielen, soll hier seine Kampfkunst trainieren.
Auch ich habe trainiert, mit Waffen um mich geschwungen und andere Bären vermöbelt, so lange, bis mir mein Meister, ein alter Bär, der mit seinen zusammengekniffenen Augen an Meister Yoda erinnert, riet, in die Welt zu ziehen und Großes zu vollbringen. Als ich die Insel erkunde, komme ich an einem Feld vorbei, auf dem riesige Kürbisse und Karotten wachsen. Ich will das Gemüse anschauen, ausprobieren, ob ich es vielleicht pflücken kann, aber dann greifen mich hässliche Rattenwesen an. Mein Fluchtinstinkt versagt, ich stehe doof rum, die Ratten rennen grunzend auf mich zu. Zwei Bären stürmen herbei, verschmelzen mit den Ratten zu einem prügelnden Haufen, Blut spritzt, die Asia-Musik dudelt. „Shed-Linge“, haben die Spielemacher meine Ratten-Angreifer getauft. Witzbolde, denke ich und renne endlich davon. Ich wundere mich nicht weiter über den Vorfall nach. Ich bin angekommen in der Kriegswelt.
Spiele, wie World of Warcraft haben nichts mehr mit überschaubaren Spielräumen der Vergangenheit zu tun. Blizzard, die Firma hinter der World of Warcraft, hat eine komplexe Welt entwickelt, ein eigenes Ökosystem geschaffen, die Historie aller Wesen geschrieben. Spieler können sie nachschlagen – und diskutieren in Foren darüber. Deshalb kann ich erfahren, dass Pandaren, also die Rasse meiner Bärenfigur, ein naturverbundenes Volk sind, dass sie gerne Bier trinken und einst eng mit Nachtelfen verbündet waren – damals, vor dem dritten Weltkrieg. Deshalb ist die Landschaft hier so vielfältig und bis ins kleinste Details gestaltet, Berglandschaften wechseln sich mit Wüsten ab, Wälder mit Wasserfällen und wilden Wiesen, hier leben Nashörner mit Teufelssauriern zusammen, manche von ihnen lassen sich zähmen und begleiten Spieler wie Haustiere. Es ist Teil des Spiels, Länder zu erkunden, Orte schön oder schrecklich zu finden, auf natürliche Feinde, wie angreifende Pflanzen zu achten oder mit anderen friedlich zusammen zu leben. Viele Spieler haben Orte, an die sie immer wieder zurückkehren. Weil sie sie mögen.
Doubleagent hat den Anfängerbereich nie verlassen, nie gekämpft, kaum erkundet. Hätte er einen anderen Teil der Warcraft-Welt sehen wollen, hätte er sich einer der beiden Kriegsparteien anschließen müssen. Andere Spieler werden berühmt, weil ihre Charaktere besonders blutrünstig kämpfen, so wie Hirukos, der 1,4 Millionen Gegner killte und dabei selbst mehr als 40 000 Mal starb. Doubleagent ist der Kriegsdienstverweigerer unter den Kriegsspielern. Und wird dafür gefeiert. So wie in diesem Youtube-Video, dass den Moment seines Triumphs, seinen Aufstieg ins höchste Level festgehalten hat und bisher von einer viertel Million Spieler angeschaut wurde.
Darin ist zu sehen, wie die Warcraft-Welt an jenem Tag im Juli 2014 Kopf stand: Bären ritten Doubleagent auf Schildkröten hinterher, flogen an Drachen hängend über ihn hinweg, Tiger rannten, leuchtende Schutzschilde surrten um sie herum, fast fünfzig Spieler wollten unbedingt dabei sein und rannten ihm wie ein Mob hinterher. „Ein Held“, raunte ein Bär mit wehendem Umhang, „was für eine Erfahrung, ihm zu folgen“, eine Tiger. Dann stand der ganze Zoo andächtig daneben, als Doubleagent das entscheidende Blümchen anklickte.
Wer ist dieser Typ: Ein Gärtner? Ein Aktivist? Oder ein Wahnsinniger?
Doubleagent wartet auf mich, irgendwo am anderen Ende der Insel, dort hinter den Bergen, vielleicht auch an dem See, auf dem ein Holzboot schaukelt oder an dem Tempel, in dem ich meine ersten Aufgaben erfüllen musste. Aber ich stehe unterhalb einer Klippe und gucke – ins pixelige Nichts. Ich bin am Ende der Kriegswelt angekommen. Meine Figur fängt an, gelangweilt rumzuhampeln, ich lasse sie hüpfen, renne an den Felsen entlang und finde doch nicht zurück auf den belebten Teil der Insel. Kann ich Selbstmord begehen und von vorne anfangen? Ist meine Bärin verloren? Eben noch war ich der hoffnungsvolle Nachwuchs, dessen computergenerierte Gegner sich nach einer Abreibung mit bewundernden Worten bedankten: „Ich muss anderen von deinen Künsten erzählen!“ Mein Meister hielt mich für einen talentierten Nachfolger. Weil ich nicht mal den richtigen Weg finde, halte ich mich für einen Trottel.
„Hallo“, schreibt mir Doubleagent im Chat. „Ich glaube, ich habe mich verirrt“, antworte ich ihm.
Er kommt, um mich zu retten. Doubleagent, steht vor mir, er hat die Gestalt eines zerzausten Wolfshundes angenommen, der aussieht, als sei er im Leben zu selten gestreichelt worden. Dann verwandelt er sich in einen Pandabären mit zerfranster Hose, mittelalterlichem Hemd und einem Schwert auf dem Rücken. Doubleagent ruft seinen klobige Diener, schickt ihn wieder weg, lässt leuchtende Klumpen um seinen Kopf sausen. Er führt mir sein ganzes Können vor und ich muss zugeben, dass ich beeindruckt bin. Ich habe keine Ahnung, was er da tut.
Auf dem Weg über die Insel erzählt mir Doubleagent aus seinem realen Leben. Er lebt in den USA, ist 31 Jahre alt, arbeitet in einem Restaurant und betreut ein Forum im Internet. An den Wochenenden hat er selten etwas vor.
„Die meisten hier langweilt es, Kräuter zu sammeln. Aber mir macht es Spaß“, schreibt er mir im Chat. Er könne sich dabei erholen, sagt er, abschalten. Ich denke, vielleicht ist er damit gar nicht weiter von der Natur entfernt, als ein Städter, der im zurecht gestutzten Stadtpark spazieren geht oder sich über die Tomatenpflanze auf dem Balkon freut.
Ich bitte Doubleagent, ein Kraut zu sammeln und das geht so: Der Wolfshund steht vor einem grünen Gewächs mit blauer Blüte und verwandelt sich in den Bären. Der reibt sich die Hände. Fertig. Eigentlich ist nicht mehr passiert, als das ein junger Mann in einer amerikanischen Kleinstadt vor dem Bildschirm sitzt und mit dem Mauszeiger auf eine Blume geklickt hat. Ein Moment so ergreifend wie ein Abwasch. Das Wort „Erdwurzel“ erscheint jetzt auf meinem Bildschirm. „Meine Lieblingsblume“, sagt Doubleagent. Weil sie hübsch aussieht? Weil du mit ihr Zaubertränke mixen kannst? „Weil die am meisten Punkte bringt“, sagt der Bär.
Wir rennen weiter, an Bären vorbei, die einbeinig auf Pfählen balancieren. Wir schwimmen durch einen Teich und verwandeln uns dabei in Schildkröten. Als uns ein Bär entgegen kommt, macht er einen Salto und rennt an uns vorbei. Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn Menschen das morgens auf dem Weg zur U-Bahn machen würden. Manchmal bleibt Doubleagent stehen, reibt sich die Hände, sammelt also Kräuter. Er kennt die Stellen auswendig, an denen sie wachsen, am Fuße eines Baumes, mitten auf einer Wiese oder hinter Felsen versteckt. Manchmal wartet er an einem Ort so lange, bis sie nachgewachsen sind. Fürs Kräutersammeln braucht ein Spieler kein Können, kein Geschick, nur die Geduld, immer und immer wieder die gleichen Wege abzulaufen und zu klicken. Doubleagent erzählt mir, dass er einen Lieblingsort auf der Insel hat: Morning Breeze Village. In dem Dorf sei es so friedlich, sagt er. Und die Sicht so schön.
Wie lange musstest du sammeln, um deinen Status zu erreichen?
„Reine Spielzeit? 173 Tage.“
Ein halbes Jahr. Lebenszeit. Normale Spieler erreichen das höchste Level innerhalb weniger Wochen.
Hinter Doubleagent erscheint ein schillerndes Portal, durch das er gleich entschwinden wird. Er lässt grüne Blitze um seinen Körper wirbeln, ein blau schimmernder, durchsichtiger Hund erscheint. Sein Leben in der Pandawelt ist ein einziger Spezialeffekt. Verbringst du deshalb so viel Zeit hier, Doubleagent?
„Ein Freund wollte mir nicht glauben, dass ich mit Kräutersammeln so weit kommen könnte. Das wollte ich ihm beweisen.“
So leicht wird aus einer harmlosen Wette ist eine Lebensaufgabe. Fertig ist Doubleagent längst noch nicht: Die Entwickler des Spiels haben gerade eine Erweiterung veröffentlich, in der es zehn neue Level gibt. Doubleagent ist nicht länger der Größte. Natürlich, sagt er, wolle er herausfinden, ob er auch dieses Mal nur mit seinen Kräutern die nötigen Punkte sammeln kann.
Zum Abschied frage ich ihn, ob er gerne Zeit in der Natur verbringt. „Nein“, schreibt er. „Ich kann Insekten nicht leiden“. Doubleagent rennt er auf das blaue Tor zu und verschwindet.
Erschienen in Das Magazin