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Student Protests_044 Kopie

Dafür! Dagegen! Zukunft!

Die Studenten der Universität Pristina haben ihren Rektor mit Protesten fortgejagt, weil er ein Betrüger sein soll. Was auf den ersten Blick wirkt, wie eine akademische Posse, ist genau betrachtet eine tiefer liegende Wut. Eine Gesellschaftskritik aus drei Perspektiven.

Als die Polizei kam, musste Liridonë Demaj daran denken, wie sie manchmal mit ihrer Mutter scharfe Paprika einlegt. Wenn sie dabei unvorsichtig ist, reibt sie sich die Gewürze mit ihren verschmierten Fingern in die Augen, sie brennen dann fürchterlich. Das Pfefferspray der Polizisten, sagt sie, schmerzte viel mehr.

Wochen später sitzt die Studentin in einem Café in der Innenstadt Pristinas. Sie bestellt einen Burger und vergisst, ihn zu essen als sie mir von diesem Tag im Februar erzählt – an dem sie aufhörte, alles zu akzeptieren. Sie hatte Demonstranten gesehen, die vor Rauchbomben fohen, den gebrochenen Arm einer Freundin, die Verhaftung eines anderen. Sie glaubt, einen Stein in der Hand eines Zivilpolizisten gesehen zu haben. Das alles nur, weil die Protestierenden den Rücktritt des Universitätsrektors forderten, der, so sind sie überzeugt, nach akademischen Kriterien betrogen hatte.

Liridonë Demaj sagt von sich, kein politischer Mensch zu sein. Sie ist 21 Jahre alt, mehr Mädchen als Frau, hat lange aschblonde Haare und dunkle Augenringe. Sie verbringt viel Zeit mit ihren Lehrbüchern. Eigentlich. Seit einiger Zeit lenken sie ihre Gedanken immer häufger davon ab.

In ihrem Kopf kreisen Fragen: Warum übernehmen die Professoren an der Universität zwar lukrative Posten, nicht aber die dazugehörige Verantwortung? Warum geben manche gegen Geld bessere Noten, warum erscheinen andere nicht zu ihren eigenen Lehrveranstaltungen? Als sich am 28. Januar die ersten Protestierenden vor der Universität versammelten, stellte sich Liridonë Demaj dazu und demonstrierte zum ersten Mal in ihrem Leben. „Können das nicht die anderen machen?“, hatte ihre Mutter zuvor am Telefon gefragt.

Die Proteste richteten sich gegen den Rektor der Universität, Ibrahim Gashi. Anfangs waren es einige Dutzend Studenten, die ihm vorwarfen, seinen Professorentitel zu Unrecht zu tragen. Mit jedem Tag bekamen sie mehr Unterstützung von ihren Eltern, Politikern, Journalisten und Bürgern. Zwölf Tage lang trafen sich tausende Unzufriedene jeden Morgen auf dem Campus. Abends räumten sie auf und gingen nach Hause. Ibrahim Gashi hatte Fachaufsätze in einem indischen Wissenschaftsjournal veröffentlicht und als Nachweis für seine Forschungstätigkeit angegeben – mit solchen Veröffentlichungen kann sich ein Wissenschaftler um einen Professorentitel bewerben. Üblicherweise werden solche Fachaufsätze von mehreren unabhängigen Wissenschaftlern überprüft. Bei dem indischen Journal soll eine Überweisung von 80 Euro reichen.

Debatten um akademische Titel hat es auch in Deutschland gegeben. Die ehemaligen Bundesminister Annette Schavan und Karl-Theodor zu Guttenberg traten wegen Zitierfehlern zurück und verloren ihre Doktortitel. Größere Demonstrationen gab es in beiden Fällen nicht. Im Kosovo setzte das Parlament die Proteste auf die Tagesordnung. Schließlich schaltete sich der Premierminister ein und forderte den Rektor auf, die Universität wieder unter Kontrolle zu bringen. Der behauptete, radikale Aktivisten wollten Blut vergießen, rief die Polizei – und trat zurück. Es ging an diesen Tagen im Winter um mehr, als ein paar Aufsätze in einem indischen Journal. Es ging um die Zukunft der Jugend.

Studentin Liridonë Demaj bestellt sich ein zweites Mineralwasser, ich mir einen Kaffee. Demaj besteht darauf, zu zahlen. Drei Euro fünfzig, viel Geld für sie. Manchmal fehlen ihr acht Euro für den Bus, um nach Hause zu ihrer Familie ins 80 Kilometer entfernte Dorf zu fahren. Nach ihrem Universitätsabschluss will Demaj einen Job als Übersetzerin fnden, deshalb studiert sie Englisch, schaut spanische Telenovelas, lernt Französisch und etwas Deutsch. Sie wäre dann die einzige in ihrer Familie, die nicht mehr auf das Geld angewiesen ist, das ihr Onkel aus Deutschland schickt. Ihre Chancen stehen nicht gut: Die Jugendarbeitslosigkeit ist im Kosovo noch höher als in Griechenland oder Spanien.

Demajs Leben ist beispielhaft für die kosovarische Jugend. Ihre drei Schwestern sind nach dem Krieg in den USA und Belgien geblieben. Ein Bruder fährt Taxi, der andere ist arbeitslos, beide leben bei der Mutter. Demaj ist die erste aus der Familie, die studiert. Sie träumt davon, ihren Masterabschluss im Ausland zu machen. Paris. Zu teuer für eine Kosovarin.

Demaj erzählt mir von Freunden, die ihren Abschluss absichtlich hinauszögern. Jahrelang hatten sich die ausländischen Wiederaufbauhelfer bemüht, möglichst vielen Jugendlichen ein Studium zu ermöglichen. Allein an der Universität Pristina lernen heute 50.000. Jetzt sind die Hörsäle überfüllt und draußen wartet niemand auf akademischen Nachwuchs. „Wir haben über eintausend Wirtschaftsstudenten, aber gar nicht genug Jobs für alle“, sagt Demaj. Nur, warum kritisiert das niemand? „Unser Problem ist die Passivität. Und den Mächtigen ist das recht.“ Die Mächtigen, das sind jene, die sich nach dem Krieg besonders schnell mit den neuen Verhältnissen arrangiert haben. So wie der ehemalige Universitätsrektor Ibrahim Gashi.

Ich will Gashi treffen und gehe in eine seiner Vorlesungen, die er seit seinem Rücktritt als Rektor wieder regelmäßig hält. Als er den Raum betritt, springt einer der Studenten auf, greift nach der Holzleiste, die in einer Ecke steht und versucht auf Zehenspitzen, den Einschaltknopf des Beamers an der Decke zu erreichen. Gashi öffnet eine Power-Point-Präsentation. Er redet über Israel und Palästina, manchmal übersetzt er, was auf Englisch auf den Folien steht. Nur eine lässt er weg. Die Erste. Denn statt „University of Prishtina“ hätte dort „Akins Highschool“ als Urheber gestanden, der Name einer texanischen Schule. Gashi hat die Präsentation nicht selbst entworfen, sondern irgendwo im Internet gefunden.

Später sitzen wir in seinem winzigen Büro. Gashi klemmt sich auf seinen Stuhl, zwischen Fenster und Schreibtisch. Ich mich zwischen Schreibtisch und Tür. Es ist kalt. Ein Computer steht auf dem Tisch, ein paar Bücher im Regal, das sich an die Wand drückt. Kein Papier, kein Stift, kein Telefon. „Es gibt Kreise, die die Veränderungen nicht wollten, mit denen ich begonnen hatte“, sagt Gashi. Er trägt einen gut sitzenden Anzug, Krawatte und Manschettenknöpfe. Und spricht mehr wie der Politiker, der er vor einigen Jahren war, weniger wie der Geschichtsprofessor, der er seit einigen Wochen wieder ist.

Ich möchte von ihm wissen, ob er verstehen kann, warum er sein Amt als Rektor verloren hat. Als Antwort zählt er auf, an wie vielen ausländischen Universitäten er geforscht hat. Arizona, Texas, Graz. Danach will er über seine Verdienste als Rektor reden: WLAN eingeführt, zusätzliches Personal eingestellt, das Verwaltungssystem modernisiert. Gashi glaubt, ein so guter Rektor gewesen zu sein, dass viele ihn loswerden wollten. So erklärt er sich die Proteste.

Herr Gashi, haben Sie für einen Professorentitel betrogen?
„Ich habe den Artikel nicht eingeschickt, ich habe nichts dafür bezahlt, ich war nur Co-Autor.“ Gashi sagt, dass ein seriöser Aufsatz in diesem Journal nicht hätte erscheinen dürfen. Er verschweigt, dass ihm der Fehler mehrmals unterlief, dass er über Mineralien, die Europäische Union und Privatisierungsstrategien schrieb statt über sein Fachgebiet Geschichte. Er verteidigt sich damit, dass er jeweils nur ein paar Zeilen dazu geliefert haben will. Keine gute Rechtfertigung für jemanden, der seinen Professorentitel mit diesen Veröffentlichungen begründet.

Ibrahim Gashi gehört zu jener Generation, die gerade anfng, sich ein eigenes Leben aufzubauen, eine Familie zu gründen, als das Land im Konfikt zwischen Serben und Albanern unterging. Anfang der Neunzigerjahre, Gashi arbeitete bereits als Wissenschaftler, verbat die serbische Regierung albanischen Universitätsmitarbeiter ihre Arbeit – so berichten es die Betroffenen. Über Jahre hinweg unterrichteten sie die albanischen Studenten insgeheim in ihren Privatwohnungen. Dann kam der Krieg und Gashi ging, wie viele, ins Exil. Er promovierte in Graz und kehrte zurück, als die Universität wieder zu funktionieren begann. Wer sich geschickt anstellte, für den erwies sich der Zusammenbruch als Fahrstuhl nach oben. Gashi wurde Leiter des „Zentrums für Qualität in der Lehre“, Dekan seiner Fakultät und bald Mitglied der Hochschulleitung. Später wechselte er in die Politik, wurde stellvertretender Außenminister. 2012 zog er ins Rektorat ein.

Ich erzähle Gashi von meinen Gesprächen mit Studenten. Wie schnell das Wort „Korruption“ fel, wenn es um Professoren und ihre Arbeit ging. Er stimmt zu. „Korruption ist ein Synonym für alles in diesem Land, auch eine Universität ist dagegen nicht immun.“ Er erzählt ein Beispiel, warum Professoren keine Zeit für Studenten, erst recht nicht für Forschung fnden: weil sie häufg noch einen weiteren Job übernehmen, um mehr zu verdienen. Anders als die Studenten hält Gashi das Problem allerdings für so gut wie beseitigt. Dank eines neuen Gesetzes, dass Zweitjobs in anderen Branchen verbietet. Bibliotheksdirektoren, Theaterleiter, der Chef des meteorologischen Instituts, sie alle seien jetzt nur noch Professoren. Was er nicht sagt: Manche von ihnen dafür gleich an mehreren Einrichtungen. Denn das verbietet das neue Gesetz nicht.

Nach dem Krieg sind eine Vielzahl kleinerer Universitäten und privater Colleges entstanden, ihre Leiter haben die wenigen verfügbaren Dozenten angeworben, auch bei ihnen zu unterrichten. Gashi sagt, das Gehalt eines Professors an der Universität in Pristina reiche eigentlich. Zu verlockend aber sei für viele die Aussicht, noch mehr zu verdienen.

Gashi lädt mich ein, ihn in Prizren zu treffen, in der dortigen Universität, eine Autostunde von Pristina entfernt.
Dort lehren Sie auch, Herr Gashi?
„Das Gesetz erlaubt mir einen zusätzlichen Nebenjob, ich habe das Recht, woanders zu arbeiten“, antwortet er.

An der Universität in Pristina arbeitet einer, der wie der ehemalige Rektor heißt, aber der bessere Mensch sein will. Er war der Erste, der öffentlich und immer wieder den Rücktritt des Rektors forderte. Jetzt sitzt Qëndrim Gashi in seinem Büro und schweigt. Er hatte aufgehört, zu reden, als sein Kollege den Raum betrat und sich an den gegenüberliegenden Schreibtisch setzte. Qëndrim Gashi ist bekannt, weil er unbequeme Dinge sagt. Die meisten, die an der Universität arbeiten, wollen sie nicht hören.

Qëndrim Gashi ist Mathematiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter und 29 Jahre alt. Nach seinem Bachelorabschluss in Pristina hat Gashi in Cambridge, Chicago und Bonn studiert. Als der Rektor Ibrahim Gashi zu studieren begann, lernte er gerade laufen. Für sein Alter ist er bereits weit in der Wissenschaftshierarchie aufgestiegen, ihm fehlt nicht mehr viel für einen Professorentitel. Trotzdem sieht er die Zukunft seiner Generation von der Garde der etablierten Professoren blockiert – und damit die ganze Gesellschaft gefährdet. „Wie soll sich unser Land entwickeln, wenn der intellektuelle Nachwuchs schon in der Universität lernt, dass niemand Verantwortung übernimmt?“

Geld, Macht, Privilegien, auch Qëndrim Gashi kennt die Verlockungen. „Sogar für die Ehrlichen ist es schwierig, nicht unehrlich zu handeln“, sagt er. Die akademische Elite ist so eng mit der politischen vernetzt, dass die Universität zu einem Ort geworden ist, an dem es um Titel geht, nicht um Inhalte. Viele der Professoren haben kein Interesse, etwas daran zu ändern. Zu bequem sind ihre Posten. Sie sind ausgemusterte Politiker und froh, am Ende ihrer Karriere einen lukrativen Job abbekommen zu haben. Ihr vergifteter Ethos tröpfelt langsam in die Adern der nächsten akademischen Generation, die nach ihrem Abschluss verantwortungsvolle Positionen übernehmen soll.

Qëndrim Gashi will mir den Ort zeigen, wo der Protest begann. In einer Nebenstraße hält er an. „Hier hat mich ein Polizist angesprochen, ob ich die Studenten vor dem Rektorat nicht stoppen könne.“ Nein, habe er gesagt, das sei nicht sein Protest. „Ich kann nichts machen.“ Man spürt ein wenig seinen Stolz darüber, für so wichtig gehalten zu werden. Es ist die Belohnung für seinen Mut, in einer schweigenden Gemeinschaft, die Stimme zu erheben. Ein paar rote Farbspritzer sind das einzige, was hier noch an den Protest erinnert.

Mehr nicht? Nur ein Bruchteil aller Studenten hatte protestiert. In meinen Gesprächen höre ich viel Kritik an den Demonstrationen. „Sie waren falsch, zu politisch. Die Aktivisten haben sich benutzen lassen“, sagt mir ein Student. Ein anderer verteidigt den Rektor: „Für Kosovaren ist es zu schwer, in renommierten Journalen zu veröffentlichen.“ Eine andere: „Das Problem ist doch ein Strukturelles, mit dem Rücktritt hat sich nichts verändert.“

Ins Rektorat ist inzwischen ein anderer nachgerückt, außer Gashi und ein paar engen Mitarbeitern ist niemand zurückgetreten. Seinen Professorentitel trägt er weiter.

Liridonë Demaj sitzt im Büro der Studentenorganisation, die im Januar die Demonstrationen anzettelte. Inzwischen kommt sie mehrmals wöchentlich hierher. Die ehemaligen Protestierenden sitzen um einen Tisch herum und diskutieren. Nur geht es nicht um Proteste oder Forderungen, sondern darum, welchen Film sie in einem der Wohnheime zeigen wollen. An den Wänden hängen Fotos von Jugendprotesten aus anderen Ländern, aus Venezuela, Spanien, der ganzen Welt. Sie zeigen erhobene

Fäuste und aufgerissene Münder, die Parolen schreien. Die Bilder wirken, als wollten sich die Protestierenden daran erinnern, welche Macht sie für ein paar Tage hatten. Wie es war, als sich alles um sie drehte. Um ihre Zukunft. Fast hätten sie etwas verändert.

 

Foto: Atdhe Mulla

Erschienen in Apropos Kosovo – Reporterreisen in das jüngste Land Europas