Imam will einen Kaffee bestellen. „Einen kleinen“, sagt sie und deutet mit Daumen und Zeigefinger die Größe an. Einen einfachen Kaffee, das versteht die Kellnerin nicht. „Espresso?“, fragt sie. „Den Namen weiß ich nicht“, antwortet Imam. Sie bekommt einen Espresso, mit Milchhaube sogar – Macchiato. Dabei wollte sie nur einen normalen Kaffee. Imam ist eine einfache Frau mit einfachen Zielen.
Sie trägt schwarze, lange Kleidung, mehrere Schichten übereinander, und ein dunkelblaues Kopftuch. Das Muster darauf ist gelb, aber dezent. Sie sitzt ganz vorne im Klassenzimmer, der Platz neben ihr ist frei. Die meisten ihrer Mitschüler könnten ihre Kinder sein, viele siezen sie. Imam ist 47 Jahre alt. Für ihren Hauptschulabschluss belegt sie einen Kurs an der Volkshochschule in Reutlingen. Mathe, Deutsche, Englisch, Wirtschaft, Politik und Computer, jeden Tag von 8 Uhr bis 12.30 Uhr.
Eigentlich hat sie längst einen Schulabschluss, auch ein technologisches Fachhochschulstudium, Arbeitserfahrung. Nur keine Zeugnisse, die ihr diese Qualifikationen bescheinigen. Imam musste überstürzt aus ihrer Heimat, dem Irak, fliehen, konnte kaum etwas mitnehmen; damals, 1996. Wegen der Politik, erklärt sie, mehr will sie darüber nicht sagen, da ihre Familie noch immer in Baghdad ist. „Ich habe viel Krieg erlebt“, sagt sie. Und lacht.
Imam lacht oft, bemüht sich, Zufriedenheit auszustrahlen. „Zufrieden bin ich, ja“. Schließlich habe sie ja alles, was sie brauche. Gesundheit, Freiheit, Sicherheit – so vieles, was für die junge Imam vor 18 Jahren nicht selbstverständlich war. Nur im Unterricht runzelt sie ihre Stirn. Der Lehrer versucht den Schülern beizubringen, wie ein Computer funktioniert. Wo sie klicken muss, um einen Dateiordner anzulegen, wie er wieder gelöscht wird. „Ist doch ganz einfach, oder?“, sagt er mehr als er fragt. Imam klickt ratlos auf ihrem Bildschirm rum. Dort sieht alles ganz anders aus als bei ihrem Lehrer. Sie hat keinen eigenen Computer, auch kein Smartphone, nur ihre Tochter einen Laptop. Für Imam ist das Gelernte eine neue Welt.
Aber Neues macht ihr keine Angst mehr, seit sie ihre Heimat hinter sich ließ. Imam hat sich an Deutschland gewöhnt, die Unterschiede zum Irak vergisst sie trotzdem nicht. „In Baghdad steht unsere Tür praktisch immer offen“, sagt sie. Und: „Deutschland ist so leise im Vergleich zum Irak“. Nur sei das heute vielleicht auch anders: Zu gefährlich das öffentliche Leben, zu zerrüttet das Vertrauen zu anderen. Nur ein Mal seit ihrer Flucht ist sie dorthin zurück geflogen. Die meisten Informationen bekommt sie aus den Nachrichten – ein vages Bild. „Wahrscheinlich ist es da heute auch leise.“
Als Imam nach Deutschland kam, brach der Kontakt zu ihren Verwandten ab. Erst hatten sie kein Telefon, dann war es zu gefährliche für die Dortgebliebenen, sie zu kontaktieren. Dabei ist Familie für Imam das Wichtigste. „Oberste Ebene“, sagt sie und zieht mit der Hand eine imaginäre Linie in die Luft. Sie selbst stellt sich dahinter zurück, auch ihren Beruf. „Acht Stunden Arbeit sind zuviel“, sagt sie, schließlich brauche sie Zeit für den Haushalt. „Natürlich ist auch Bildung wichtig. Aber was ist Bildung ohne Familie?“. Inzwischen sind zwei ihrer drei Kinder ausgezogen, studieren in anderen Städten. Imam braucht eine neue Aufgabe.
Seit September kommt sie täglich in die Volkshochschule, nachmittags passt sie auf die Kinder anderer Mütter auf, die dort Kurse belegen. Dafür möchte sie nach dem Hauptschulabschluss weiter machen. „Realschule. Oder Abitur oder eine Lehre zur Erzieherin“. Die, die ihre Zeugnisse im Irak ließ, hat heute ein einfaches Ziel: Neue Papiere bekommen, auf denen ihre Qualifikation steht.
Erschienen in ZAMMA 2014