In Marmeladengläsern verwahrt sie diese Gefühle. Luft, Natur, Menschsein. Kleine Blüten versammeln sich darin, grüne Kräuter, Brennessel. »Irre, dieser starke Duft«, sagt Julia Stephan, als sie eines der Gläser öffnet. Mehr Natur ist selten für sie erreichbar, so mitten in der Stadt. Pragmatisch betrachtet sind es getrocknete Pflanzen, aus denen sie sich jeden Morgen Tee brüht. Den sie genießt, weil sie gerne Tee trinkt. Mit ihrem Duft entfaltet sich aber auch ein Pathos, das daran erinnert, wie das Leben noch sein kann. Es führt sie zurück in ihr Alpen-Abenteuer, nach Guarda.
Alltag ist für viele Menschen ein gelebter Gegensatz, von Natur zu täglichem Leben, von sich selbst nah sein zu Arbeit. Früher traf das auf wort- und sprichwörtliche Fließbandarbeit zu, heute ergreift dieser Lebensstil selbst jene Bereiche, deren Beschäftigte gerne glauben, anders zu leben: die Kreativbranche.
Als neuen, einträglichen Wirtschaftsbereich sortiert der Bund hier Designer, Filmschaffende, Software-Unternehmen, Werbeschaffende und andere Berufe ein, setzt Förderprogramme auf und schmückt sich mit dem guten Image der Kreativen. Soziologen sehen hingegen eine Branche, deren Beschäftigte sich selbst prekarisieren: Zugunsten vermeintlicher Freiheit und Flexibilität unterwerfen sich die Kreativen befristeten oder scheinselbstständigen Arbeitsverhältnissen, halten phasenweise extreme Arbeitspensen aus. Sie pflegen einen Lebensstil aus Dynamik, Trends und Beschleunigung. Julia Stephan ist seit zehn Jahren Teil dieser Branche. Sie würde sich selbst auch so behandeln, hätte sie nicht ihre Kräuter entdeckt.
Julias Geschichte ist von schnellem Aufstieg bestimmt. Nach der Schule absolviert die Berlinerin eine Ausbildung, reist ein halbes Jahr um die Welt und zieht dann schließlich zum Studium nach Stuttgart um. Anschließend findet die Verpackungsentwicklerin bald Arbeit in einer großen Agentur. Anders als viele Kreative hat sie Glück und bekommt einen festen Vertrag, gutes Gehalt, leitende Aufgaben. »Das war eine tolle Agentur«, erzählt die 28-Jährige, »sie haben mir viel ermöglicht.« Trotzdem überkommt sie das Gefühl, sie fände dort nicht, was sie suche. Stattdessen »viel Verantwortung, viel Stress«, seufzt Julia. Neben der Arbeit beschäftigt sie sich mit Pflanzenheilkunde. Als ihr Arbeitsvertrag nach zwei Jahren ausläuft, wagt sie es, ihn nicht zu verlängern.
Es ist Hochsommer in den Alpen. Julia beugt sich über eine bunte Wiese, zwischen saftigem Grün sprenkeln violette und gelbe Blüten. Mit einer Schere schneidet sie die gelben ab. Frauenmantel, später werden sie getrocknet und in Teemischungen verkauft. Julias Haut hat ein tiefes Braun angenommen, seit sie Stuttgart und den Büroalltag gegen das schweizerische Bergdorf Guarda eingetauscht hat. Es ist der Juni 2011, die Verpackungsentwicklerin ist nun Erntehelferin auf einer Kräuterfarm. Jäten, sammeln, stripfeln, trocknen, verpacken, elf Stunden am Tag, drei Monate lang.
»Wer hat nur die Arbeit in geschlossenen Räumen erfunden?«, fragt sie in einer E-Mail an ihre Freunde, belustigt über ihre Freude an so viel Natur. »Mittlerweile jeden zweiten Tag wild sammeln – soo schön«, notiert das einstige Stadtkind und kündigt an, von nun an nur noch selten über das Internet kommunizieren zu wollen. Einfacher soll der Kontakt werden, wie das Leben im kleinen Kosmos von Guarda. Dinge passierten hier oben auf 1650 Metern direkter, beobachtet die Gastarbeiterin, »viel leichter für den Kopf zu begreifen«. Anstelle von SMS-Orgien und E-Mail-Fluten knüpft sie hier die Kontakte persönlich. »Man begegnet einander ja ständig im Ort.« Verspürt sie das Bedürfnis, mit Familie und Freunden zu sprechen, kauft sich Julia ab und an eine Telefonkarte. Und so steht sie da, mitten auf dem nächtlichen Marktplatz, in einer hell erleuchteten Telefonzelle, umrahmt von historischen Engadinerhäusern und den neugierigen Blicken ihrer Gemeinde.
Ohnehin wirkten alle viel selbstbestimmter, meint Julia. Sie glaubt, das läge an der Nähe, die die Menschen zur Natur pflegen, an der vielen frischen Luft: »Dieses bäuerliche Leben ist bestimmt nicht einfacher, aber vielleicht mehr der menschlichen Natur entsprechend.« Ihr Beweis: »Diese blauen Augen. Alte Bauern, so kräftige Menschen und dann strahlt aus ihnen dieser Blick«, beschreibt sie die Menschen, die sie mitten in den Bergen traf – kein Vergleich zu den gebückten, grauen Rentnern aus der Stadt.
Sie, die als Kind nichtmal im Kleingarten ihrer Mutter helfen wollte, beginnt, die Kräuter als »kleine Wunderwerke« zu bezeichnen, und staunt sogleich, welch abgedroschen klingende Phrasen die einzigen sind, die ihre Eindrücke zu beschreiben vermögen. »Es ist so faszinierend, wie unterschiedlich so kleine Pflanzen auf Sonne oder Regen reagieren können.«
Sie interessiert sich für ihre Wirkung: »Verblüffend, was man schon mit Kamille und Brennessel machen kann.« Selbst an ihren freien Tagen wandert sie mit einer Freundin durch die Berge und sucht nach neuen Kräutern.
Mehr als ein halbes Jahr liegt dieses Abenteuer zurück, doch noch immer sprudeln aus Julia die Geschichten, als hätte sie sie erst gestern erlebt. Wie sie stundenlang mit ihren Kolleginnen Pflanzen verarbeitete, mal die eigenen oder fremden Probleme besprechend, mal in Gedanken versunken. Wie sie drei Tage brauchte, um eine Wiese in ein bestellbares Beet zu verwandeln, und noch mehr Zeit, um ihren Muskelkater zu überwinden. Wie sie die Einfachheit des Alltags genoss und sich dann doch nach geistiger Herausforderung sehnte.
Ihre Geschichte ist keine über eine Aussteigerin, die das Patentrezept erfunden und ihr altes Ich hinter sich gelassen hat. Julias Geschichte spielt nach wie vor mitten in der Großstadt, bald sogar wieder mitten in einer Designagentur – ab April hat sie eine neue Anstellung als Verpackungsentwicklerin. Aber sie erzählt von einer Frau, die herausgefunden hat, was ihr wichtig ist. »Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich beide Berufe ausüben, vier Tage als Verpackungsentwicklerin, den fünften dann mit meinen Kräutern«, erzählt Julia. Bewusst pflegt sie ihre Bedürfnisse: »Ich versuche nun öfter Nein zu sagen«, sagt sie mit Stolz, dafür brauche sie aber keine winzige Bergwelt. Eine Heilpraktiker-Ausbildung will sie machen, sich einen eigenen Garten anlegen und noch mehr über die Heilkraft von Pflanzen lernen. Und dann sucht sie sich ihr Leben aus – ihr Kräutertee erinnert sie jeden Morgen daran.