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Ein Mädchen geht shoppen…

… und Hunderttausende sehen sich das Ergebnis als Video im Internet an. Um mehr geht es nicht bei den „Hauls“. Und genau das ist ihr Erfolgsgeheimnis.

00:00:01 Als Sissi auf dem Bildschirm erscheint, beginnen 15 Minuten und 24 Sekunden Banalität. „Hallo. Heute habe ich mal eine andere Kameraposition gewählt, damit ihr ein bisschen mehr von mir seht, weil sich das viele gewünscht hatten.“ Sissi ist eine junge Frau, deren Lächeln nicht endet. Sie sitzt auf dem Fußboden. Zu sehen sind ihr Gesicht und etwas Oberkörper. Nacheinander hält sie ihre Shoppingbeute ins Bild. Kleidung, Accessoires, DVDs.

15 729 Menschen, so steht es unterhalb des Videos auf Youtube, haben sich Sissis Shoppingergebnisse bereits angesehen. Haul nennt sich so ein Film, Beute. In den Videos präsentieren Mädchen und ein paar wenige Jungs ihre Einkäufe. Sie erzählen, dass sie das Rot eines Nagellacks so schön finden, ein Duschbad nach Pfirsich duftet oder ein Shirt so schön geschnitten ist. Meist sind sie im Teenageralter, nur wenige schon älter wie die 27-jährige Sissi.

Die Haul-Welt ist ein eigener Kosmos, in dem Hunderte um Aufmerksamkeit buhlen. Ursprünglich waren es US-Amerikanerinnen, die sich in ihren Kinderzimmern vor die Kameras hockten, heute tun es Mädchen in der ganzen Welt. In Deutschland öffneten die ersten Youtuberinnen vor rund sechs Jahren ihre privaten Zimmertüren.

Einige der deutschen Videobloggerinnen sind damit so erfolgreich, dass sie zusammen ein Millionenpublikum bespielen: „Daaruum“ mag gemusterte Kleider, mehr als 800 000 Menschen sehen ihr regelmäßig zu. Die Protagonistin von „Bibis Beauty Palace“ findet, dass ein bestimmtes Kokosduschbad gut duftet. Sie hat über eine Million Abonnenten. Und 300 000 Zuschauer haben die Videos von „Xkarenina“ abonniert, deren Handlungen schon mal darin bestehen, dass die ehemalige Medizinstudentin ihre Nagellacke sortiert.

Die Mädchen stecken sich die Haare hoch, räumen ihre Handtaschen aus, schminken sich vor laufender Kamera. Manchmal gleichen die Videos wahren Epen – auf 48 Minuten und 25 Sekunden kommt „Rebiswölkchen“. Sissis Viertelstunde auf ihrem Kanal Mystyleandfashion ist da vergleichsweise kurzweilig.

Wenn Jugendliche früher ihre Nachmittage vor dem Fernseher verbrachten, klicken sie sich heute durch Youtube. Es sind nicht mehr die Erwachsenen, die sich ein Fernsehprogramm für eine junge Zielgruppe ausdenken – die Zielgruppe macht sich ihre Unterhaltung selbst: Filme, in denen die Jugendlichen Persönliches und Privates miterleben lassen. Und die Youtuberinnen wie Sissi sind keine abgehobenen Stars aus dem Kino oder Fernsehen, sie könnten nebenan wohnen und die beste Freundin sein.

Youtube-Stars erscheinen viel erreichbarer als die traditionellen Idole aus Film und Fernsehen“, erklärt Thorsten Hennig-Thurau, Professor für Marketing und Medien an der Uni Münster. Anders als klassische Stars verkörperten sie eine bekannte Lebenswelt mit ähnlichen Budgets wie ihre Zuschauer.

00:01:20 Sissi lächelt auch, als sie die ersten Beutestücke in die Kamera hält: zwei Plastikblumen. „So, so, so schön!“ Die Blumen sind im Angebot gewesen, sagt sie, nur 2,50 Euro. Sie will sie zu den anderen stecken, die sonst im Hintergrund zu sehen sind, sagt sie. Heute hat der Strauß da aber nicht mehr hingepasst, wegen der neuen Kameraposition, sagt sie. Sissi plappert viel und schnell. Sie zieht ihre Augenbrauen hoch und sieht noch erfreuter aus. Dann zeigt sie die neuen DVDs.

Bloggerinnen und Zuschauer treiben auch ähnliche Fragen um: Wenn die Haul-Mädchchen sich Gedanken darüber machen, welche Hose oder Bluse zu ihrem Alltagsoutfit passt, dann stimmt die Antwort höchst wahrscheinlich auch für die Schulmädchen, die ihnen zusehen.

Sissi lässt die Zuschauerinnen auf ihrer Facebook-Seite abstimmen, über welche Themen sie ein Video produzieren soll. Sie veröffentlicht Fotos auf Twitter oder Instagram, antwortet auf Kommentare zu ihren Videos. Wie die meisten Youtuberinnen ist sie omnipräsent im Internet – und auch dadurch für ihre Fans ein glaubhaftes Gegenüber. „Sie sind ein neuer Typ von Meinungsführern“, sagt Hennig-Thurau.

Die Hauler veröffentlichen ihre Videos im Takt der Modeindustrie. Sie haben sich dem Prinzip der „Fast Fashion“ der großen Ketten angepasst: Die bringen ihre Kollektionen nicht mehr viermal in ihre Läden, sondern sechs- bis achtmal pro Jahr. Und sie produzieren die beliebtesten Stücke innerhalb von Tagen nach. Ähnlich schnell wie die Modetrends würden auch die Fans der Youtuberinnen vorbeiziehen. Darum schafft nur eine Bindung, wer viel liefert. Auch Sissi liefert.

00:07:34 Sissi hält das nächste graue Oberteil vor die Kamera. Es ist kaum zu erkennen. Sie findet das Teil „richtig, richtig, schön“. Ihre Einkäufe sind häufig auch „total cool“ oder passen „absolut perfekt“. Kein Wort zur Qualität, kein Vergleich mit anderen Produkten, schon gar kein Expertenwissen.

Die Videos spiegeln wider, was für Jugendliche in dem Alter wichtig ist. Kleidung, Schminke und die Frage: Was steht mir?“, sagt Nina Köberer, die an der Universität Tübingen unter anderem zu den Themen Medienethik und Medienbildung von Jugendlichen forscht.

Das alles ist natürlich nicht neu. Schon immer kann man in Zeitschriften nachlesen, was angesagt ist. Dort wird aber oft ein Idealbild gezeichnet. Der besondere Reiz der Videos sei auch die Normalität, sagt Köberer. „Die Zuschauerinnen sehen: Die hat ja auch Kleidergröße 40 oder Sommersprossen, die sie zu überschminken versucht.“ Und gerade weil die Video-Mädchen nichts Besonderes können und hinter ihnen kein großer Medienapparat steht, seien sie interessant für ihre Fans.

Die Hauler sind als gutes Geschäftsmodell längst entdeckt. Sissi hat einen Vertrag mit dem Unternehmen Mediakraft geschlossen, das sich als Netzwerk bezeichnet und ähnlich einer Künstleragentur Youtuber repräsentiert. Darunter finden sich Musiker, Comedians und eben junge Menschen, die über ihre Einkäufe reden. Mediakraft verspricht, bei der technischen Umsetzung der Videos zu helfen, ihre Mitglieder zu Marken zu machen und ihre Präsenz in den sozialen Medien zu fördern. Ein Vertrag mit dem Netzwerk gilt unter Youtubern als ein Statussymbol. Für Mediakraft sind die Videos der Hauler letztlich nur ein gutes Umfeld für Anzeigen: Die Agentur unterhält eine Tochterfirma, deren Aufgabe die Platzierung von Werbung ist. Je höher die Klickzahlen, desto attraktiver ist ein Youtuber für Anzeigenkunden.

00:09:00 Sissi zeigt eine Leggins. Eigentlich habe sie eine Grüne kaufen wollen. Die gab es aber nicht. Also hat sie die Rote genommen. „In die Farbe hab ich mich total verliebt“, sagt sie. Genau erkennen kann man das Stück wieder nicht, aber Sissis Begeisterung wirkt überzeugend.

In welcher Höhe Sissi und ihre Kolleginnen an den Einnahmen mitverdienen, darüber spricht niemand. Mediakraft möchte keine Zahlen nennen, Youtube verbietet Filmemachern vertraglich, Summen zu veröffentlichen. Sissi deutet an, dass es weniger als ein Euro pro Stunde Arbeit ist und erst in der Summe ein bisschen was zusammenkommt. Bis zu zehn Stunden sitzt sie an einem Beitrag, zwei bis drei davon veröffentlicht sie in einer Woche. Nur ganz wenige können von ihrer Marke als Youtuberin leben. Nur wenige können von ihrer Marke als Youtuberin leben so wie die Schauspielerin Nilam Farooq alias „Daaruum“, die derzeit das Gesicht einer großen Kampagne für Youtube ist.

Auch viele Unternehmen haben längst begriffen, was die jungen Frauen zu bieten haben: das ideale Werbeumfeld. H&M, Primark, Zara und die anderen schätzen das Marketingpotential der Videos – und viele der Bloggerinnen fühlen sich privilegiert, wenn Modeketten oder Kosmetikfirmen sie einladen, gar als Testimonial verreisen lassen oder mit Produkten beschenkt.

Die Drogeriekette dm zum Beispiel bietet Bloggern regelmäßig neue Produkte im Paket an, das Onlineversandhaus Zalando verschenkt massenhaft Gutscheine. Die Agentur Mediakraft vermittelt im Auftrag von Herstellern gezielt Produkte an ihre Klientinnen, die diese im Video zeigen, manchmal verlosen oder auch einfach selbst benutzen – und dafür dann ein Honorar erhalten.

Für die jungen Zuschauerinnen ist der Unterschied zwischen einem gutgemeinten Rat und Werbung nicht zu erkennen. Manche Bloggerinnen kennzeichnen, wie Sissi, eine Produktplatzierung. Kontrollinstanzen jedoch gibt es nicht: Der Werberat ist nicht zuständig, Eltern und Lehrer unterschätzen die Bedeutung solcher Formate für die Jugendlichen. Oder wissen nicht einmal, dass sie sie gucken.

Ich mache die Videos nicht für mehr Abonnenten oder für Geld“, sagt Sissi über ihre Arbeit als Youtuberin, „sondern um anderen eine Freude zu bereiten.“ Sie nimmt ihre Rolle ernst. Sissi diskutiert mit ihren Zuschauern über falsche Körperideale, wenn sie selbst als zu dick bezeichnet wird. Sie gibt auch Tipps zu gesunder Ernährung oder rät zu Sport.

00:14:01 Sissi streckt ihre Arme von sich. „So, das war mein großer Haul!“ Der Zuspruch in den Kommentaren ist groß, „Du bist toll“, schreibt ihr ein Mädchen, „Juhuuuu“, freut sich ein anderes, weil das nächste Video zufällig an ihrem Geburtstag erscheinen soll.

Sissi investierte viel Geld in professionelle Technik, auch weil sie während ihres Studiums im Fachbereich Mediengestaltung bei den Dozenten durchsetzen konnte, ihr Hobby mit den Studienaufgaben verbinden zu können. In ihrer Abschlussarbeit untersuchte sie, wie Youtuber am meisten Erfolg haben. Heute berät sie mit dem gesammelten Wissen Unternehmen, die ihren Social-Media-Auftritt verbessern wollen

Sie wollte schon als Kind ein Star werden, sagt Sissi. Damals trat sie als Schlagersängerin auf. Heute geht sie für Youtube-Videos einkaufen.

Illustration: Nina Eggemann

Erschienen in enorm 05/2014