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Andreas Chudowski

Große Schiffe, kleine Schiffe

Reisen als DDR-Bürger, Besuche in Fernost und immer wieder das Meer. Kapitän Niehusen fuhr 40 Jahre lang zur See. Jetzt steuert er die kleine Fähre eines 5-Sterne Hotels in Rostock. Eine Begegnung zwischen zwei Anlegern.

Sie wiegen sich lustig nach rechts und links, die zwei Herren mit ihrem Akkordeon. Möwen kreischen, Touristen bleiben stehen als Sylvia herantuckert. Sylvia ist flach, dickbäuchig und eine hölzerne Barkasse, ihr Kapitän Klaus-Dieter Niehusen rangiert sie in eine kleine Lücke zwischen zwei Rundfahrtschiffe, bevor die Passagiere aus ihrem Bauch herausströmen. „Danke und einen schönen Tag“, murmelt Niehusen ihnen entgegen, eigens dafür lüpft er die blaue Schirmmütze.

Ich bin versucht, ihn mit „Ahoi!“ zu begrüßen, stelle mich dann aber doch einfach nur vor, um nicht die unwissende Landratte zu sein. Niehusen murmelt, wir gehen an Bord. Ich möchte von ihm wissen, wie es ist, ein Kapitän zu sein, ob er Seeungeheuer gesehen und eine Meuterei überstanden hat, Pfeife raucht und die Freiheit des Meeres liebt. Letzteres umso drängender, als Niehusen sein Schiff vorstellt.

Was ist der ursprüngliche Zweck der Barkasse?
Sylvia ist ein Personenschiff. Sie hat früher die Hafenarbeiter zum Be- und Entladen der großen Schiffe transportiert. Sie ist von 1948. Ein richtiger Oldtimer.

Gehört Sie Ihnen?
Nein, die gehört dem Hotel. Ich bin dort nur angestellt. Der dortige Chef hat sie sich ausgesucht. Ich war erst dagegen. Weil man damit nicht auf See kann. Das wollte ich aber. Jetzt habe ich mich daran gewöhnt, so ein großes Boot hätte ich nicht gefunden.

Kapitän eines Bootes, das nichtmal auf See, nichtmal auf die Ostsee, kann? Niehusens Job ist speziell: Er fährt Hotelgäste von der einen Uferseite des Flußes Warnow auf die andere, das Meer immer in Sichtweite. Zehn Minuten dauert die Fahrt. 20 Mal täglich, jeden zweiten Tag. Ich überschlage: 300 Mal fährt er im Monat diese Strecke. Ist das nicht langweilig? Wir legen ab.

Es ist ein einfacher, wie sagt man, Rentnerjob. Aber das ist gar nicht ganz so einfach. Immerhin transportiere ich hier Menschen. Vor zwei Tagen waren es insgesamt über 700 Leute.
Können Sie die Strecke auswendig?
Klar. 
Könnten Sie sie blind fahren?
Nein, das geht nicht. Jedes Mal ist alles anders, die Segler, Fähren, Rundfahrtschiffe. Manchmal ist es hier sogar anstrengender, als bei großen Schiffen, wie Frachtern. Bei denen stelle ich auf Autopilot, lehne mich zurück und schaue auf das Meer. Hier muss man wirklich alles von Hand machen.

Ein Kapitän, der riesige Frachter um die ganze Welt, bewaffnete Fregatten in Grenzgebiete steuert, nimmt ein paar Hundert Meter auf der Warnow ernst. Der Sonntag wird seinem Namen gerecht, auf dem Wasser wimmelt es vor Booten, die auf die Ostsee hinaus fahren oder zurückkehren, manche Hobbyfahrer kreuz und quer zwischendurch. Durch die Öffnung in der Kaimauer schimmert das Meer – wir aber steuern in die andere Richtung. Niehusen lädt mich auf die Brücke ein. Ein mal ein Meter, ein paar bunte Knöpfe, ein Hebel, Anzeigen und Hit-Gedudel aus dem Radio, in das sich der Seefunk mischt. „Willkommen auf der kleinsten Brücke der Welt“, grinst Niehusen, dann verengt sich sein Blick. Konzentration. Die braunen Falten in seinem Gesicht malen Wellen um seine Augen. 40 Jahre lang hat er mit zusammengekniffenem Blick die Ferne abgesucht, das Meer hat seine Spuren hinterlassen.

Niehusen beginnt von seiner Arbeit zu erzählen. Unbedingt wollte er zur See fahren, in der damaligen DDR sei für ihn der einzige Weg die Volksmarine, also die militärische Seefahrt gewesen. Ostsee, Nordsee, sogar das Nordpolarmeer durfte er bereisen, gekämpft habe er aber nur in Übungen, erzählt der Kapitän. Nach der Wende musste er erstmals an Land arbeiten, lange hielt er das nicht aus. Er gründete eine Bootsfahrschule und machte sein Kapitänspatent, die Berechtigung, um auf große Fahrt zu gehen. Seither fährt er Frachtschiffe, Tanker, Fähren, Yachten in der ganzen Welt. Seit einem Jahr nun Sylvia. Und tatsächlich: Er erwähnt sie oft, diese Freiheit auf dem Meer.

Was bedeutet für Sie Freiheit?
Sobald man die Mole hinter sich lässt, hängt alles von deiner Entscheidung ab. Das ist Freiheit im reinsten Sinne: Wenn du die Ladung an Bord hast, musst du sie in bestimmter Zeit irgendwo hinbringen. Wie du das machst, ist dein Ding.

Aber richtig frei ist das ja nicht, oder?
Doch, da ist so ein innerliches Gefühl. Natürlich hat das nichts mit „ich schnapp mir meinen Rucksack und weg bin ich“ zu tun. Aber Seefahrt ist nicht so in Gesetze gefasst, wer da fährt macht das nach Gutdünken. Das ist etwas ganz anderes, als müsste ich einen LKW von Hamburg nach Madrid fahren. Da ist alles voller Regularien.

Und das Meer selbst, ist das etwas besonderes für Sie?
Klar. Seeleute wollen mal Nichts am Horizont sehen, sie wollen mal auf das Meer glotzen. Warum das so ist, weiß ich nicht. Ich glaube, das liegt am Charakter. Für mich ist das sehr reizvoll. Aber klar, das muss man genießen können. Für andere kann das auch wie Knast sein, auf diesem Schiff zu hocken.

Ein Paar klettert an Bord. Sie fragt aufgeregt, in welche Richtung das Schiff denn fahre, sie ertrage ja rückwärts fahren nicht, er setzt sich auf den erstbesten Platz. Seufzend sinkt eine Urlauberin auf die Sitzbank nieder, sie sei schon ganz erschöpft von so viel Erholung, teilt sie mit. Man verabredet sich an der Hotelbar. Niehusens Blick treibt raus auf die Ostsee.

Die Barkasse hat mit Seefahrt an sich natürlich nichts zu tun. Das ist eine Fähre. Aber selbst hier ist es immer wieder schön, wenn du früh kommst und sie zur Fahrt fertig machst.

Und sind Sie nicht traurig, diese Freiheit in ihrem aktuellen Job nicht mehr zu erleben?
Nee, irgendwann ist der Traum dann auch erfüllt. 1991 und 92, da war es ein wirkliches Ziel, selber zu fahren. Aber das hab ich dann ja auch gemacht. Jetzt fahre ich noch bis zur Rente, danach habe ich ja noch meine Schule und auch noch mein Kapitänspatent. Vielleicht übernehme ich dann auch nochmal Containerschiffe.

Würden Sie gerne mal ein Kreuzfahrtschiff fahren?
Nee, das war von Anfang an nicht mein Metier. Ich mache alles außer Passagierschiffe. Du hast deine Aufgaben, die gibst du beim Schichtwechsel ab. Du musst dich nicht bei den Passagieren zeigen. Und nicht ständig frisch rasiert sein.

Sylvia legt wieder ab, der Kapitän und sein Bootsmann erfüllen routiniert die nötigen Handgriffe, Treppe rein, Festmacher rein, ein Plausch mit den Passagieren. Später erzählt Niehusen, dass sein Kollege früher bei der DDR-Handelsmarine auf Kühlfrachter gefahren sei. Manchmal habe er Bananen aus Südamerika geholt. Ganze Frachter voll. Ein echtes DDR-Abenteuer.

Was war Ihr größtes Abenteuer?
Als wir mit dem Küstenschutzschiff zu den Faröern gefahren sind. Die Gegend, das Wasser, die Farben, das muss man mal gesehen haben, dieses Nördliche. Aber auch die erste Fahrt mit einem Containerschiff vom Mittelmeer, durch den Suezkanal, bis nach Japan und zurück. Oder Shanghai.

Ist es ein Unterschied, als Kapitän auf einem zivilen Schiff oder für die Marine zu fahren?
Ja, zivil ist total entspannt. Sehen Sie mal, sie haben Munition, Minen und Raketen geladen, da kann man nicht entspannt sein. Bei einem Containerschiff haben Sie 24 Mann Besatzung. Das ist nicht das gleiche, wie mit 120 Matrosen zu fahren. Aber bei den Frachtern hat man ja auch 5000 Container geladen. Ich weiß zwar dann nicht, was drin ist, aber der Versicherungswert ist meist eine Milliarde Euro.

Anlegen, Passagiere raus. Warten. Passagiere rein. Ich habe vergessen, wie oft wir inzwischen hin und her gefahren sind. Auf der einen Uferseite schunkeln die Akkordeonspieler im Fischbrötchendunst, auf der anderen herrscht 5-Sterne Erholung. Ich verlasse Sylvia auf der Fischbrötchenseite, wie jedes Mal nach dem Anlegen bilden der Kapitän und sein Bootsmann ein ordentliches Zwei- Mann-Spalier für ihre Passagiere.

Sagen Seeleute “Ahoi”?
Nein. Wir sagen manchmal „Moin“, weiter westlich heisst es „Moin-Moin“. Aber ansonsten wünschen wir uns nur „Gute Fahrt“. Das ist ja auch das Wichtigste.

Erschienen in Päng! No. 2